Sri Aurobindo
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Schöpfer des Integral-Yoga
Die alten indischen Yoga-Systeme haben Jahrhunderte und Jahrtausende im wesentlichen unverändert überdauert. Ihre Verdienste auch für den modernen Menschen sind unbestritten. Aber ist nicht eine Weiterentwicklung des Yoga erforderlich, um unserem heutigen Bewusstsein und Leben zu entsprechen? Der Yogi, Dichter und Seher Sri Aurobindo war überzeugt, dass die Ziele und Methoden der Vergangenheit für den heutigen Menschen nicht mehr hinreichen. So entwickelte er einen neuen Weg, der die besten Elemente der indischen Tradition voll integriert, gleichzeitig aber über sie hinausgeht: Es ist der Integral-Yoga, für den nicht mehr persönliche Befreiung aus dem Kreislauf der Existenzen das letztliche Ziel ist, sondern ein ganzheitlich erfülltes, spirituelles Leben auf Erden.
Wilfried Huchzermeyer skizziert im Folgenden das Leben und Wirken Sri Aurobindos, erklärt sein Yoga-Verständnis und die atmosphärischen Veränderungen, die durch diesen großen Yogi eingeleitet wurden:
Sri Aurobindos Lebensweg war auch in seinem äußeren
Entwicklungsgang bemerkenswert. Er wurde am 15. August 1872 in
Kalkutta geboren. Sein bengalischer Vater war eher europäisch
orientiert und schickte den jungen Aurobindo schon im Alter von
sieben Jahren nach England, wo er eine klassisch-humanistische
Ausbildung erhielt. Zunächst erwachte der Dichter in ihm, seine
griechischen und lateinischen Verse waren preisgekrönt. Auch
französisch beherrschte er fließend und lernte in seiner
Freizeit genug deutsch, um in Goethes Faust lesen zu können.
Die Unabhängigkeitsbewegung
Mit 21 Jahren kehrte er nach Indien zurück und hatte gleich bei seiner Ankunft in Bombay eine überwältigende Erfahrung unsagbaren Friedens. Er vertiefte nun seine Kenntnisse der indischen Kultur und Geschichte und lernte Sanskrit - die Sprache der Veden, Upanischaden und der Bhagavadgita. Aber sein Hauptinteresse galt der indischen Widerstandsbewegung, zu deren geistigen Führer er bald wurde. Er wollte Freiheit und Unabhängigkeit für sein Land und war bereit, dafür zu kämpfen. In mehreren Zeitschriften veröffentlichte er eine Reihe von inspirierten Artikeln, die seine Landsleute wachrüttelten. Es ging nicht darum, dass er die Engländer hasste oder rein politische Ziele verfolgte. Die Freiheit eines jeden Landes war ihm eine Forderung unserer Zeit, einer neuen Weltordnung, in der Asien eine wichtige Rolle spielen würde.
Die Aktivitäten der Freiheitskämpfer
verunsicherten die britische Kolonialregierung, und so wurde Sri
Aurobindo 1908 mit zahlreichen anderen führenden
Persönlichkeiten verhaftet. Nach einjähriger
Untersuchungshaft wurde ihnen in Alipur der Prozess gemacht. Ein
angesehener indischer Anwalt verteidigte Sri Aurobindo mit einem
brillanten Plädoyer und erreichte seinen Freispruch.
Der Beginn des Yoga - Spirituelle Erfahrungen
Sri Aurobindo hatte 1904 mit Pranayama-Übungen begonnen und sofort bemerkenswerte Resultate erzielt Er fühlte ständig eine Art elektrische Kraft um seinen Kopf und konnte nach Belieben Prosa und Poesie schreiben, wie in einem nie versiegenden Quellstrom. In den folgenden Jahren kam es dann zu einer Reihe kleinerer spiritueller Erfahrungen.
Der große Durchbruch ereignete sich im Jahr 1907, als er den vedantischen Yogi Vishnu Bhaskar Lele traf. Dieser wies ihn an: "Setze dich hin, beobachte, und du wirst sehen, dass deine Gedanken von außen in dich eintreten. Bevor sie eintreten, wirf sie zurück."
Sri Aurobindo folgte dieser Anweisung und erreichte innerhalb von drei Tagen die Erfahrung ewiger Stille. Es war das raumlose, unbegrenzte Brahman, das Nirvana, auf dessen Hintergrund die Welt wie ein Film erscheint, der vorüberzieht. Indische Yogis, die hier stehen blieben, sprachen von der Maya, der Illusion, der Unwirklichkeit der Welt. Für Sri Aurobindo war es nur ein Durchgang.
Eine weitere entscheidende Erfahrung hatte er im Gefängnis von Alipur. Während er vor seiner Zelle auf- und abging, spürte er, wie die Kraft des Göttlichen ihn erfüllte, das nun in allen Menschen und Dingen gegenwärtig war: "Ich schaute auf das Gefängnis... und die hohen Mauern kerkerten mich nicht mehr ein, es war Krishna, der mich umgab... Es war Narayana. der mich bewachte und für mich Wache stand."
Im Gefängnis erschien ihm auch in einer Vision Swami Vivekananda und erklärte ihm zwei Wochen lang höhere Bewusstseinsebenen, einen sehr wichtigen Bereich spiritueller Erfahrung. Zu Lebzeiten hatte der Schüler Ramakrishnas nie über diese Dinge gesprochen.
Im Jahr 1910 erhielt Sri Aurobindo einen inneren Befehl, sich von der politischen Arbeit zu lösen und nach Pondicherry zu reisen, einer französischen Kolonie südlich von Madras an der Ostküste Indiens. Dort widmete er sich nun intensiver innerer Arbeit und entwickelte den Integral-Yoga.
1914 kam es zu einer ersten Begegnung mit Mira Alfassa (1878-1973), einer Französin ägyptisch-türkischer Abstammung, die bereits einen langen spirituellen Weg hinter sich hatte und auch spezielle Kenntnisse verborgener Kräfte besaß.
1920 kam sie endgültig nach Pondicherry und blieb dort bis an ihr Lebensende als Sri Aurobindos spirituelle Mitarbeiterin, "die Mutter".
Ihre Aufgabe bestand darin, die geistigen Kräfte, die Sri Aurobindo freisetzte, in Leben und Materie zu verwirklichen. Der Sri Aurobindo Ashram bildete sich allmählich heran, indem immer mehr Wahrheitssucher aus Indien und aus dem Westen, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, nach Pondicherry kamen.
Im November 1926 hatte Sri Aurobindo die sehr
wichtige Erfahrung des Übermentalen (overmind). Er erklärte
es als "Herabkunft Krishnas in das Physische", eine
entscheidende Vorstufe für die Herabkunft des Supramentalen
(supermind).
Die frühen Hauptwerke
Während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte er in einer Artikelreihe zahlreiche Schriften, die zu Hauptwerken wurden, darunter auch "Das Göttliche Leben", "Die Synthese des Yoga" und "Die Essays über die Gita". In späteren Jahren kamen insbesondere die Briefe über den Yoga als wichtige Informationsquelle für den Sucher hinzu.
In seinem Werk "Das Göttliche Leben"
entwirft Sri Aurobindo in einer grandiosen Vision das Bild einer
progressiven Evolution mit ungeahnten künftigen Möglichkeiten,
aber auch teils schwierigen Phasen. "Die Synthese des Yoga"
und "Die Briefe" zeigen den integralen Yoga-Weg auf.
Hauptelemente aus der indischen Tradition sind die drei Wege der
Bhagavadgita: Der Pfad der Werke, der Erkenntnis und der Liebe.
Techniken und Erkenntnisse aus anderen Systemen und Weisheitslehren
können ebenfalls mit Gewinn integriert werden, wenn dies dem
persönlichen Entwicklungsgang entspricht.
Das Supramentale
Neues Element ist die "Herabkunft des Supramentalen". Das letztere ist ein globales, gnostisches Wahrheitsbewusstsein, das alle Teilung - z.B. auch jene der Religionen - aufhebt in einem grenzenlosen Einheitsempfinden. Die Dualität und Gegenüberstellung von Geist (Spirit) und Materie wird auf dieser Ebene endgültig überwunden: Materie ist Geist-Stoff.
Der Mensch kann dieses integral-gnostische Bewusstsein nicht durch sein Ego anstreben, sondern sich nur durch allmähliche Aufgabe oder Umpolung des Egos und die Sehnsucht der innersten Seele ihm öffnen, es hereinlassen. Voraussetzung dafür ist eine gründliche Vorbereitung des Wesens, eine geduldige Sadhana, so dass die mentale, vitale und physische Natur des Menschen unter den Einfluss des Lichts kommt und allmählich transformiert wird. Es geht darum, jeden verborgenen Winkel unseres Wesens auszuleuchten und auf das Licht einzustimmen, was mitunter zu Protestkundgebungen aus dem Unterbewussten und Unbewussten führen kann.
Hilfreich bei dieser Arbeit sind Aufrichtigkeit,
Überantwortung an das Göttliche und innere Haltungen, die
wir auch von anderen Wegen kennen, z.B. Gleichmut und die Fähigkeit,
von den Dingen (und sich selbst) einmal Abstand zu nehmen, sie wie
ein Zeuge zu betrachten. Eine Schlüsselrolle bei der
Überantwortung spielt das psychische Wesen, gleichsam ein
Botschafter des Göttlichen in unserem Herzen, der uns
zuverlässig die rechte Richtung weist, wenn wir nur auf ihn
hören.
Der kollektive Yoga
Dieses Streben nach ganzheitlicher Entwicklung bleibt nicht auf den Einzelnen beschränkt. Es kann zu spirituell orientierten Gemeinschaften führen, die kollektiv auf das Ziel der Transformation hinarbeiten, wobei einerseits sehr viel mehr Entwicklungsmöglichkeiten bestehen, andererseits aber auch Schwierigkeiten im Gruppenleben auftreten können.
Im politischen Bereich wäre das Ziel eine auf
Einheit und Harmonie ausgerichtete Weltgemeinschaft, die im
wesentlichen von Kräften des Lichts regiert wird - gewiss eine
ferne Vision, aber nach Sri Aurobindos letztlich doch zu realisieren,
gleich welche Irrwege die Menschheit auf ihren verschlungenen Pfaden
der Evolution noch einschlagen mag.
Die Herabkunft des Supramentalen
Als Sri Aurobindo am 5. Dezember 1950 die
(physische) Erde verließ, war sein Körper 111 Stunden in
ein supramentales Licht gehüllt, das jede Zersetzung verhinderte
und von vielen Anhängern gesehen werden konnte. Sri Aurobindo
hatte beschlossen, wegen starker Widerstände im Erdbewußtsein
von der anderen Seite weiterzuarbeiten, während die Mutter den
Yoga der Transformation im Körper fortsetzen würde. Eine
massive Herabkunft des Supramentalen ins Erdbewußtsein fand
nach Auskunft der Mutter am 29. Februar 1956 während einer
kollektiven Meditation im Ashram statt. Die Anhänger Sri
Aurobindos glauben, daß damit eine Kraft in die Erdatmosphäre
gebracht wurde, die definitiv auf eine neue Welt hinarbeitet. Dies
schließt jedoch vorübergehende Rückschläge nicht
aus, da nach wie vor hartnäckige Widerstände gegen das
Licht bestehen.
Savitri
Das bedeutendste literarische Werk Sri Aurobindos ist
sein spirituelles Epos Savitri,
eine mantrische Dichtung
in englischer Sprache, die den Sucher auf einer langen,
faszinierenden Reise durch das Universum führt, durch seine
sichtbaren und unsichtbaren Welten, seine Evolutionsgeschichte, seine
spirituellen Gipfel und tiefen Abgründe. Der gesamte Text - fast
24.000 Zeilen in Blankvers - liegt auch in zwei deutschen
Übertragungen vor.
(c) Wilfried Huchzermeyer (Ph.D.). Der Autor hat
Indologie und Philosophie in Deutschland, den USA und Indien
studiert. Er veröffentlicht spirituelle Literatur in seiner
edition
sawitri in Karlsruhe.